Im Bann der hohen Pässe des Everest
Ich fühle mich nicht bereit, als diese Tour beginnt. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, meine Gefühle gelangen wie durch einen Filter zu mir. Ich weiß nicht so recht wie mir geschieht, als es endlich losgeht. Werde ich das schaffen?
Schlechte Nächte und gute Tage
Der vierte Morgen ist furchtbar. In der letzten Nacht raubten mir viele Toilettengänge und Zweifel den Schlaf. In der Höhe trinkt man mehr als üblich, und der Körper dehydriert schneller. Meine Augenringe und mein zerknittertes Gesicht sprechen an diesem Morgen mehr als mein Mund, und ich denke, dieses Vorhaben wird scheitern – zumindest für mich.
Ein Gedanke lässt mich in den ersten Stunden des Tages nicht los: Wieso zur Hölle wandere ich durch den Himalaya, statt mit Cocktail am Strand zu liegen und das Ende meines Studiums zu feiern? Wieso diese Anstrengung, wenn ich doch dringend Entspannung brauche?
Doch wie jeden Tag heißt es Sachen zusammenpacken, Schuhe schnüren und laufen, essen, laufen – bis zur nächsten Unterkunft. Je länger wir unterwegs sind, desto mehr weichen die Zweifel dem Rhythmus meiner Schritte und meines Atems. Die Schönheit der Umgebung lenkt ab, der Geist wird ruhiger. Je höher wir kommen, desto weniger Vegetation und immer mehr Eis und Stein umgeben uns. Wir durchqueren kleine Siedlungen, sehen Menschen bei der Arbeit auf dem Feld und beim Steine klopfen. Die Wäsche gefriert auf der Leine vor der Hütte, das Holz ist knapp hier oben und reicht gerade so zum Kochen und um abends ein Zimmer zu heizen. Mir fällt nur eines dazu ein: das ist lebensfeindlich und der beste Beweis, wie anpassungsfähig und zäh Menschen sein können. Doch die Kälte hat auch seine guten Seiten, sie bringt die Menschen dazu sich zu versammeln, unabhängig von Herkunft oder Stand. Jeder verbringt den Abend im Dining Room, die Wärme des Ofens wirkt wie ein Magnet, das Knistern des Holzes vermittelt Gemütlichkeit.
Die Heiligkeit der Berge
In Tengboche (3.860m) nehmen wir mit anderen Wanderern an einer Zeremonie im Kloster teil. Mit sockigen Füßen schleicht jeder still an den Rand des Raumes, immer darauf bedacht leise zu sein, um die Mönche nicht zu stören. Sie verharren im Lotussitz, bedeckt von rostbraunen dicken Umhänge und chanten. Bei der Meditation gelingt es sogar den prägnanten Wandersockengeruch zu vergessen. Als die Mönche fast schwebend den Raum verlassen, erheben auch wir uns wieder. Der Raum in dem wir uns befinden ist farbenfroh, die Wände geschmückt mit buddhistischen Kunstwerken und die Augen der Gottheiten blicken verständnisvoll zu uns herab. Alle staunen, betrachten die buddhistische Gottheiten. Mir stellt sich die Frage: wer sieht hier wen?
Beim Verlassen des Klosters tritt man wieder in eine andere Welt, der Kontrast ist atemberaubend. Die Farbenpracht wird zu einer schneebedeckten Landschaft aus Eis und Stein.
An diesem Abend sitze ich alleine für Minuten vor unserem Teehaus, mein abendliches Ritual. Jeden Abend schreibe ich ein paar Worte bevor ich mich in meinen Schlafsack verkrieche. Es ist still, das Leben und die Landschaft sind fern der Zeit. Die Uhren ticken anders in den Bergen – nämlich gar nicht. Die Sonne und das Wetter bestimmen den Tagesablauf.
Der Tag ist noch jung als wir nach einem ausgiebigen Frühstück aufbrechen. Der Weg führt uns durch eine schneebedeckte Landschaft. Mittlerweile gibt es kein Grün mehr, es ist zu kalt und die Luft zu dünn.
Je länger wir uns in dieser Umgebung aufhalten, desto mehr verstehen wir: heilig sind die Berge und Flüsse, die Götter sind überall, genauso allgegenwärtig ist die Naturgewalt. Unser Guide Lila macht uns immer wieder aufmerksam auf besonders schöne Ausblicke und landestypische Eigenheiten.
Das Mount Everest Basecamp
Der Weg zum Everest Basecamp (5.350m) ist wenig spektakulär, er gleicht einer Autobahn. Der Himmel ist verhangen, meine Nase verschnupft. Wir treffen Expeditionen, erfahrene Hochalpinisten aber auch blutige Anfänger in Jeans. Man findet immer Gründe zum Staunen, Lachen oder sich wundern. Langweilig oder eintönig wird es auf der Autobahn des Himalayas nicht, allerdings verschwindet die Ruhe. Im Camp selbst merkt man, dass der Kommerz auch hier angekommen ist. An diesem Flecken Erde, so fern ab der Zivilisation, kann man mit Geld fast alles kaufen. Die Logistikleistung ist immens, aber übertrifft nicht die Absurdität, dass selbst ein Saunagang in diesen Höhen möglich ist.
Immer wieder stellen wir uns vor, wie all diese großen Bergsteiger hier waren, den selben Weg gingen wie wir - nur weiter. Ich fühle mich, als würde ich in die Fußstapfen der Geschichte treten. Während wir Beweisbilder aufnehmen und herumlaufen, bemerken wir Aufregung neben uns und da passiert es: ein Heiratsantrag! Der Erste, den ich miterlebe - und dann auch noch hier. Wir werden gebeten, Bilder von ihnen zu machen, gratulieren und freuen uns auch für uns selbst.
Kala Patthar – umgeben von Giganten
Das ist bisher unser frühster Morgen und meine schlimmste Nacht. Meine Befürchtungen, ich würde halluzinieren und wäre möglicherweise höhenkrank, verschwanden glücklicherweise, als wir morgens bemerkten, dass die Tropfen, die ich auf meinem Gesicht spürte, real waren. Es gab einen Sturm. Der Schnee gelangte durch die Fenster in unser Zimmer und auch auf mein Gesicht. Die morgendlichen Zweifel verschwinden augenblicklich, als ich aus dem Teehaus trete. Der kobaltblaue Nachthimmel ist übersät mit leuchtenden Sternen, die die Giganten in ein misteriöses Schwarz tauchen. Schnell ist die letzte Nacht vergessen.
Der Aufstieg zum Kala Patthar (5.643m), der am Tag zuvor relativ einfach aussah, erweist sich beim Laufen als stetig steil und kräftezehrend. Als wir immer wieder Gruppen überholen, bin ich doch überrascht, wie viel Kondition und Durchhaltewillen wir in den letzten Tagen aufgebaut haben.
Trotz allem erlebe ich hier erstmals einen Moment, an dem mein Körper und Geist streiken. Der Wind peitscht ins Gesicht, die Luft ist klirrend kalt und sticht in den Lungen, meine Füße spüre ich kaum und der Blick zum Gipfel ist ernüchternd. Michele und unser Guide Lila sehen mich an und die Zuversicht in ihrem Blick ist die Motivation, die ich brauche. Wir sind so weit gekommen, aufgeben ist keine Option. Stoisch setze ich einen Fuß vor den anderen, sehe nicht mehr nach oben, zähle von 1 bis 4, immer und immer und immer wieder; bis der Gipfel direkt vor mir ist.
Ich bin, nicht mehr und nicht weniger. Die Erschöpfung weicht einer mir unbekannten Kraft. Der Blick wandert unaufhörlich und kann nicht glauben, welche Schönheit er vor sich hat. Mit jedem Meter, den die Sonne aufsteigt, wird ein weiteres Stück der Berggipfel in ein warmes Gold eingetaucht. Auf diese Empfindung hat mich nichts vorbereitet. Michele und ich halten uns an der Hand, stolz, zufrieden und so so leicht. Der schönste Ausblick unseres Lebens - da sind wir uns einig. „Wer das nicht selbst gesehen hat, wird es uns nicht glauben.“, sagt Michele. Lilas Augen sagen mehr, als Worte es könnten. Unser Gefühlsausbruch ist viel für den in sich ruhenden Sherpa, aber er ist stolz und ebenfalls glücklich. Es scheint, als würde auch er nie genug bekommen von der Schönheit der Berge, welche sein Zuhause sind. In dieser kurzen Zeit sind wir uns nahe gekommen und ich bin mir sicher, wir hätten keinen besseren Guide, Weggefährten und Freund finden können.
Als all diese Gefühle nicht mehr ausreichen, um uns die angefrorenen Hände und Füße vergessen zu lassen, machen wir uns auf den Rückweg. Zurück in Gorak Shep (5.207m) angekommen, erwartet uns unser wohlverdientes Frühstück. Es ist 9 Uhr und die Tagesetappe nach Dzongla (4.840m) steht uns noch bevor.
Die letzte Stunde der Wanderung ist ermüdend, doch weitergehen ist die einzige Option und zudem gibt es etwas, das uns anspornt: Das Wiedersehen mit Jonas, meinem Bruder. Vor drei Tagen trennten wir uns und er machte sich auf den Weg den Island Peak zu besteigen. Es gibt keinerlei Möglichkeit den anderen zu kontaktieren und jeder hier oben weiß, egal wie gut trainiert und vorbereitet, die Natur bestimmt. Als wir schließlich an dem Teehaus ankommen, ist er bereits eingetroffen und die Freude ist riesig, bis wir sein Gesicht sehen. Kurz vor dem Gipfel ist sein Steigeisen gebrochen, jeder Schritt wurde dadurch lebensgefährlich. Vernünftigerweise drehten er und sein Kletterführer um, die Frustration war zunächst groß.
Mit unverhältnismäßig gutem Essen, netten Wirten und einer Sprite für 6 Euro feiern wir unser Wiedersehen, der Frust ist schnell vergessen. „Es war einen Versuch wert, vielleicht versuche ich es irgendwann wieder. Außerdem geht es ums Gehen, nicht nur um die Gipfel“, grinst Jonas und wirkt schon losgelöster. Den Abend vor dem zweiten Pass verbringen wir mit unseren Sherpas. Versammelt um den Ofen erzählen wir uns gegenseitig von unserem Zuhause und den Familien, zeigen Bilder und lachen viel.
Gokyo – interkulturelle Freundschaften
An dem Abend in Gokyo (4.750m) zeigt sich eine länderübergreifende Leidenschaft : Karten spielen. Wie immer verbringen wir den Abend damit „6-nimmt“ und „Durak“ zu spielen. Nach und nach gesellen sich immer mehr Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zu uns. Die Spielregeln werden mit Händen und Füßen erklärt, eine große Thermoskanne Tee wärmt uns von innen und unsere gemeinsame Sprache sind die Karten und das Lachen - manchmal braucht es nicht mehr. An diesem Abend sind wir die letzten die ins Bett gehen, bevor wir am nächsten Tag unseren dritten und letzten Pass erklimmen.
Renjo La Pass (5.345m)
Dieser Pass bedeutet, dass wir die schwierigsten Etappen gemeistert haben. Von nun an geht es auf direktem Weg zurück nach Lukla. Die Rast auf dem Pass gleicht einer kleinen Feier. Wir teilen Naschereien, machen Gruppenfotos und lassen uns von dem Hochgefühl des Erfolges zur nächsten Unterkunft tragen.
Erschöpft und uns nach Komfort sehnend, genießen wir die letzten Stunden des Tages, als uns ein anderer Guide von der anrückenden Schlechtwetterfront erzählt. Auf die Nachfrage, was denn unsere Optionen wären, antwortet er mit nepalesischer Gelassenheit: „Schnell laufen oder eine Woche warten“. Die Aussicht, tagelang in Lukla auszuharren, erscheint uns nicht erstrebenswert. Nach einer Lagebesprechung mit unserem Guide Lila beschließt er, dass wir auf Pausetage verzichten, um möglicherweise doch noch fliegen zu können.
Die letzten Meter
Auf unserem Weg zurück nach Namche Bazar (3.440m) bemerken wir, dass der Frühling Einzug gehalten hat im Solu Khumbutal. Überall blüht es, die Blumen sind farbenprächtig und eine willkommene Abwechslung nach all dem Schnee. Der Blütenduft mischt sich mit dem Geruch von Räucherstäbchen, Essen und frisch geduschten Wanderern - und weckt die Sehnsucht nach einer Dusche. In Namche nächtigen wir in der gleichen Unterkunft wie bei unserem Aufstieg. Heimatgefühl überkommt uns, alles wirkt vertraut und dieses Dorf ist nach der Zeit in der Einöde groß wie eine Stadt. Es ist geschäftig, Cafés und Supermärkte spielen Musik und wir genießen bezahlbaren Kaffee, heiße Schokolade und ein Kartenspiel mit einem neugewonnenen Freund. Auch in unserer Unterkunft treffen wir bekannte Gesichter wieder, gratulieren uns gegenseitig zu unserem Erfolg. Abends sitze ich auf einem Mäuerchen, auf dem ich vor über einer Woche meinen Zweifeln nachhing, und genieße den Augenblick. Wir haben es fast geschafft, denke ich und werde ein wenig melancholisch. Ich werde zurückkommen, da bin ich mir sicher.
Höhenflug in Lukla (2.800m)
Mein erster Gedanke am letzten Morgen: hoffentlich gutes Wetter! Der erste Blick nach draußen bringt Enttäuschung mit sich – es sind Wolken am Himmel. Während ich schon davon ausgehe, dass wir die nächsten Tage in Lukla (2.800m) verbringen werden, ist Michele voller Optimismus. Die Stunden vergehen bei Tee nur zäh, andauernd checken wir den Himmel und irgendwann wird klar: wir werden keinen Flug bekommen. Doch Michele soll Recht behalten, denn auf einmal geht alles ganz schnell. Ich weiß nicht so recht was geschieht, als wir erst zum ATM, dann über einen Trampelpfad zum Helikopterlandeplatz rennen. Und dann heißt es wieder warten. Keiner kann beantworten wann wir fliegen, geschweige denn mit welchem Helikopter. Wir sehen wie Höhenkranke aus den Helikoptern getragen werden und sind voller Dankbarkeit, dass wir wohlbehalten zurückgekommen sind. Dann geht alles wieder ganz schnell, wir werden angewiesen unser Gepäck zu nehmen, steigen bei drehendem Propeller ein und für die Dauer einer Stunde bin ich Copilotin der „2650 India India“. Der Abschluss unserer Trekkingtour könnte nicht spektakulärer sein.
Der Himalaya wurde zu meinem Sehnsuchtsort. Mir wird warm um Herz, denke ich an meine Weggefährten, den klaren Sternenhimmel und die golden leuchtenden Gipfel bei Sonnenaufgang.
Hannah B.